«Geldvermehrung & Reizüberflutung»

Kürzlich habe ich im Blog* «Beruf + Berufung – Einblicke in die Arbeitswelt» ein Interview mit dem Psychotherapeuten und Psychiater Manfred Stelzig gelesen. In seinem neusten Buch** geht es um die chronischen SchmerzpatientInnen, die sich im Labyrinth unseres Gesundheitswesens die Füsse wund laufen und dabei keine wirkliche Unterstützung und Linderung erhalten. Dabei hat mich vor allem dieser Abschnitt beeindruckt und bewegt:

«Warum sind so viele Menschen gestresst?
Ich sehe zwei Hauptfaktoren: Zum einen sind wir enorm stark durch das Streben nach Geldvermehrung geprägt. (…) Der Anspruch, ein Maximum an Leistungsfähigkeit und Rendite herauszuholen, erzeugt einen enormen Druck. Was sich nicht rechnet, erhält keine Akzeptanz. Zweitens leiden wir alle unter einer enormen Reizüberflutung. Alle paar Sekunden fordert ein neuer Stimulus unseren Organismus, was dieser einerseits als Belohnung, andererseits aber auch als Belastung und Bedrohung registriert. Es ist sehr schwierig geworden, sich zu entspannen und auf Distanz zu gehen zu den Dingen. Die natürlichen Freiräume für die Psyche werden immer rarer. (…) Vielleicht sollten wir in Westeuropa uns etwas mehr ums Glück und etwas weniger um Geld, Prestige und Leistungsoptimierung (…) kümmern.»

Ich habe mir nach der Lektüre die Frage gestellt, wo Nachhaltigkeit beginnt. Was ist die Basis, damit wir heute mit hoher Qualität leben und unseren Nachkommen morgen intakte Lebenschancen hinterlassen können?

Ich denke, es sind die ganz privaten und persönlichen Werte und Ziele, die in der Summe letztlich darüber entscheiden, ob eine Nachhaltige Entwicklung von immer mehr Menschen als attraktiv wahrgenommen wird. Und sich damit durchsetzt.

Das nach immer mehr Geld streben, der nie nachlassende Rationalisierungsdruck am Arbeitsplatz, das Unvermögen, sich in Ruhe auf etwas einzulassen, der zunehmende Wettbewerbsdruck aufgrund der Globalisierung, die uns überfordernde (da sich rasant entwickelte) Digitalisierung. Das sind aus meiner Wahrnehmung starke oder sogar vorherrschende Kräfte. Diese würden wir doch sofort entschärfen – wenn wir ohne grosse Anstrengung die Wahl dazu hätten.

Und trotzdem: die Leistungsgesellschaft ist der richtige Ansatz. Die Globalisierung ist eine im Grundsatz richtige Entwicklung, da damit immer mehr Menschen überhaupt die Chance erhalten, sich einen gewissen Wohlstand zu erarbeiten und der Armut zu entfliehen. Dabei bleibt die soziale und ökologische Nachhaltigkeit leider (noch) weitgehend auf der Strecke, aber im Kern ist diese Entwicklung trotzdem richtig. Vielleicht haben wir aber das Mass verloren. Dieses in unseren Gesellschaften quantitativ nach immer mehr Streben steht einer nachhaltigeren Justierung der persönlichen Werte und Ziele im Weg. Weniger wäre doch mehr. Könnten dem (insgeheim) nicht alle zustimmen?

Ich erlebe das tagtäglich beim Betreuen meiner Zwillinge: etwas weniger Erwerbsarbeit, etwas weniger Geld, dafür werde ich reicher an Erfahrung, Sinn und Glück. Das tönt kitschig und abgedroschen – aber es ist so. Ich frage mich jeden Tag, weshalb nicht mehr Väter diesen Weg gehen, weshalb nicht mehr Mütter Anstösse geben, dass die Väter ihre Rolle verantwortlicher, verbindlicher und zeitintensiver wahrnehmen.

Weshalb befinden wir uns aber noch nicht auf diesem Weg? Selbstverständlich: eine Nachhaltige Entwicklung ist noch weit davon entfernt, populär, geschweige denn ein gesellschaftlicher Konsens zu sein. Aber still, langsam und stetig wird dieses für mich so überzeugende Konzept – da es ökonomische, ökologische und soziale Ansprüche miteinander in Einklang bringt – seinen Weg machen und zum Trend, vielleicht sogar zum Megatrend in Gesellschaft & Wirtschaft werden.

Ich setze mich privat wie geschäftlich dafür mit Freude und Beharrlichkeit ein.

Jürgen Schulz

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* Blog-Beitrag «Beruf + Berufung – Einblicke in die Arbeitswelt»
** Manfred Stelzig: «Krank ohne Befund. Eine Anklageschrift.», Ecowin Verlag,
Salzburg 2013, ISBN 978-3-7110-0028-6, Information und Kontakt: M.Stelzig@salk.at

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